In groß angelegtem Rahmen wurde der Karneval von Rio erstmals
1854 gefeiert. Anzeigen luden jedermann zur Teilnahme ein - Arme und Reiche
gleichermaßen. Dem
Organisationskomitee gehörten Rechtsanwälte, Ärzte und
Journalisten an, Beamte,
Geschäftsleute und Offiziere. 1870 entstanden dann «große
Gesellschaften», die sich an
der Programmgestaltung beteiligten und bis zum Aufkommen der
Sambaschulen (escolas
de samba) aktiv blieben. Diese Sambaschulen sind heute die
Hauptattraktion des Karnevals von Rio. Die erste (Deixa falar) wurde 1928 gegründet, doch
in den Anfangsjahren
nahmen die Sambaschulen nur inoffiziell teil. 1932 beteiligten
sie sich erstmals am Wettbewerb, und Sieger wurde die Sambaschule Estacão Primeira de
Mangueira. In den fünfziger Jahren hatten es die Sambaschulen geschafft, sich zu gut
organisierten Vereinen zu
entwickeln, und mittlerweile sind sie, mit geringfügigen
Abwandlungen, zur Institution
geworden.
Star des Karnevals ist das arme Mulattenmädchen aus den favelas
von Rio. 364 Tage
lang üben die Tänzer in den Sambaschulen und träumen von der
einen Nacht, in der sie
- in Glitzerkostüme gehüllt - Königin und König, Prinzessin und
Prinz sein dürfen.
Zu Tausenden verlassen sie ihre Elendshütten in den favelas und
geben sich mit Leib und
Seele der Karnevalsstimmung hin. Und während sie in die Rolle
schlüpfen, die Sambaschule und Karnevalsprogramm ihnen zugedacht haben, ist für
einen kurzen Augenblick die ganze Erbärmlichkeit ihres Alltagsdaseins vergessen.
Während des Karnevals wirken die wunderschönen Mulattinnen -
die Heldinnen in
den Werken berühmter brasilianischer Dichter, Komponisten und
Maler - wie Sinnbilder der Schönheit und rassischen Demokratie. In diesen drei
Tagen, in denen Rio de
Janeiro und ganz Brasilien, insbesondere der Nordosten, singt
und tanzt, ist jeder
getragen von einer Art unwirklicher menschlicher Brüderlichkeit
- jedermanns
Freund, und mancher opfert dafür die Ersparnisse eines ganzen
langen Jahres.
Wiedergeben läßt sich diese Karnevalsatmosphäre vielleicht am
besten mit den
Worten des Sambas Felicidade aus dem Film Orfeo negro:
«Die Sorge kennt kein Ende,
Wohl aber das Glück!
Das Glück des armen Mannes -
Es liegt in der großen Illusion des Karnevals.
Ein langes Jahr, angefüllt mit Arbeit
Für einen Augenblick der Phantasie,
Die aus den Menschen Könige macht,
Korsaren oder Gärtner -
Bis dann der Mittwoch anbricht und alles endet...»
Text und Melodie eines jeden neuen Sambas liefern wichtigen
Gesprächsstoff. In Rio
und überall in Brasilien werden die Komponisten populärer
Klänge geradezu vergöttert,
und dies keineswegs nur von jungen Leuten. Jeder erkennt sie
auf den Straßen Rios und
erweist ihnen den gebührenden Respekt.
Das Karnevalsprogramm beginnt am Sonntagabend und endet am
Karnevalsdienstag.
Durch das Zentrum von Rio ziehend, stellen sich dann die
Sambaschulen bei der Parade
in der Passarela do samba (Sambódromo), die 600 Meter lang ist
und 60000 Sitzplätze hat,
den Juroren. Zwischen den Sambaschulen herrscht harte
Konkurrenz, und die Benotung der Jury ist endgültig. Jede Schule vertritt einen
Stadtteil und wählt eine Melodie
und ein Programm. Farbenzusammenstellung, Kostüme und
künstlerische Umsetzung
des Themas sind eifersüchtig gehütetes Geheimnis jeder
Sambaschule, während sie sich
ein volles Jahr auf das große Ereignis vorbereitet. Nicht
selten präsentieren die einzelnen
Schulen 3000 bis 4000 Mitwirkende bei der Parade.
Das Sambódromo, beim Karneval 1984
eingeweiht, entstand nach
einem Entwurf Oscar Niemeyers, Brasiliens angesehenstem
Architekten.
Im Gegensatz zu anderen Großstädten, wo Volksfeste allmählich
aussterben, fördert
Rio den Fortbestand seines Karnevals nach Kräften. Mittlerweile
ist er fast zum
Synonym für die Stadt geworden und lockt Touristen aus aller
Welt an.
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